Es ist sieben Uhr morgens und von Party ist noch nicht viel zu sehen. Der Himmel über dem Zentralen Omnibusbahnhof, der eigentlich dezentraler Bahnhof heißen müsste, weil er am Stadtrand liegt und für fast alle Berliner schlecht zu erreichen ist, hat die Farbe eines schmutzigen Lappens, der Boden ist pfützig und kalt. Drei kichernde Jungen teilen sich in der Deckung eines Fahrkartenautomaten ein Dosenbier. Mehr passiert erstmal noch nicht. Der Rest unserer Reisegruppe steht betont unauffällig zwischen Koffern, Decken und Kuscheltieren herum, alle ignorieren sich natürlich gegenseitig, stieren auf den roten Doppeldeckerbus von Rainbow Tours. Wir steigen in das obere Abteil, weil oben ja auch früher schon die interessanten Menschen, das interessantere Leben stattgefunden zu haben scheint. Vor uns öffnet sich ein Panoptikum aus Zahnspangen, gegeelten Haaren, Makeup und Bermudashorts. Schnell ist klar, dass der Fotograf und ich vom Fahrer, „dem Roman“, mal abgesehen, mit Abstand die Senioren an Bord sind – wir sind 29 und 31 Jahre alt. Zur Tarnung haben wir bunte Mützen eingepackt und uns extra noch einmal nassrasiert (was uns, wie wir schnell feststellen müssen, aber auch nicht jünger macht: die finden uns einfach nur seltsam, vielleicht sogar ein bisschen pädophil, wir fallen jedenfalls auf). Als wir losrollen, winken uns durch die getönten Scheiben die Mamas und Papas hinterher, ihre Gesichter von Müdigkeit und Besorgnis zerknautscht. 25 Stunden Fahrt liegen vor uns. 25 Stunden zur Sonne, zur Freiheit, zum Strand. Wir tuckern durch Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Hessen, niemand wird zurückgelassen, wir sammeln überall in Deutschland kleine und kleinste Häufchen von Jugendlichen ein.
Um kurz nach zehn schiebt unser Hintermann uns den ersten Alkopop zu. Es scheint professioneller Stoff zu sein. „Reiss mich auf“, „Ready to drink“, „16% Vol“ steht darauf. Das Getränk heißt „Bum“ und ist in eine Art blaue Senftüte verpackt, damit das auf Flaschen und Dosen geeichte Radar von Busfahrern, Lehrern und sonstige Autoritäten es nicht identifizieren kann. Ein die Zunge betäubender Geschmack, irgendwo zwischen Fensterreiniger und Rübensirup, breitet sich im Mundraum aus. „Fressalien sind Tabu und bitte keinen Alkohol konsumieren“, ermahnt uns Jan, einer der beiden Reiseleiter, der im wirklichen Leben irgendwas studiert und aussieht wie ein Tocotronic Bandmitglied über die Lautsprecher. In der Mitte des Busses erzählt Paul, ein Berliner, der gerade seinen Zivildienst fertig gemacht hat, einen ziemlich lustigen Witz:
„Woran hält sich ein Belgier beim Sex fest?“
„Watt?“
„Na, woran hält sich’n Belgier beim Sex fest?“
„Wees ick nich.“
„Am Schulranzen.“
„Oh Mann.“
Ab Erfurt wird die Fahrt zu einem Höllenritt. Fünf Jungs steigen zu, deren Erkennungszeichen offenbar in die Ohrläppchen gesteckte Miniradkappen und Christiano-Ronaldo-Frisuren sind. Sie tragen Sonnenbrillen, haben alle Hosentaschen, Rucksäcke, Hände voller Bier. „Sss gehd’n? Fuck! Auf geht’s! Yeeah!“, ruft der, den sie Rico nennen und der offenbar der Anführer der Krawallbande ist, von vorn. Zwei andere schließen eine kleine Box an, grotesk verzerrt, aber in Schallwaffenlautstärke knallt die Musik durch das Abteil: „Piep, Piep, kleiner Satellit“. „Lulululu-Lummerland.“ „Wir wollen Schnaps, wir wollen Bier, auf Arbeitsplätze scheißen wir!“ Die Erfurter trinken Met, Martini, Dosenbier und Cola-Goldkrone, ohne erkennbares System. Reiseleiter Jan macht von unten eine Durchsage: „Äh, ich bitte jetzt auch nochmal um Sensibilität bezüglich des Alkohols. Also an Bord herrscht striktes Alkoholverbot.“ „Wir fahren eine Minude und ich bin scho‘ voll“, lallt Marc, der vor uns sitzt. „Hey Mädels, der will euch nur fisten. Ich sag’s euch wie’s is, brüllt Rico neben ihm durch den Bus.“ „Ananass, Ananass, komm, wir machen die Anna nass“, schallt es aus den Sitzreihen vor uns. Ein paar Mädchen mosern zaghaft („Gibt’s dich auch in leise?“, „iih, du hast Käsefüße!“), die meisten ergeben sich ihrem Schicksal, sie versenken sich in eine Diddl-Maus-artige Trance.
Kurz vor Frankfurt, Zigarettenrauchen, Raststätte. Das heißeste Gesprächsthema: Fliegen die Erfurter raus? Paul sagt: „Ick hab ja nüscht gegen Stimmung, wirklich nich, aber das ‚is dann doch ’n bisschen viel.“ Annika und Sophie aus dem Umland von Berlin, die sich jede eine Cinderella Decke mitgebracht haben und sich später den Pocahontas Soundtracks wünschen werden, sagen, sie könnten diese Typen umbringen, so einen schlechten, frauenfeindlichen Musikgeschmack hätten sie noch nicht erlebt. Der zweite Reiseleiter, Alex, der sehr muskulös ist und aus irgendwelchen Rainbow-Tours-internen Gründen schon zwei Nächte in Folge nicht geschlafen hat, nimmt die Erfurter beiseite und droht ihnen ein bisschen: „Also, folgendes: jetzt steigen gleich noch 30 Leute ein, dann sind wir 77, es wird also eng. Der neue Busfahrer ist jetzt schon voll am heulen. Der ist voll sauer und streng. Der wartet nur darauf, einen von euch rauszuschmeißen.“ „Können wir dem nicht einfach in die Fresse hauen?“, fragt Rico den Reiseleiter. Zurück im Abteil gibt er die Parole aus, dass der Busfahrer ja wohl der „übelste Hitler“ sei. „Hey Leude, Hitler fährt den Bus!“ So böllern und saufen wir weiter, Stunden und Tage lang. Hinter Baden-Württembergischen Rebstöcken versinkt die Sonne, in Frankreich ist es Nacht, in Katalonien wieder hell.
Am nächsten Morgen halten wir auf dem letzten Rastplatz vor Lloret de Mar, wo Busse aus ganz Deutschland darauf warten, im Corso in die Stadt einzufahren. Flankiert von unterbezahlten Reiseleitern, die teilweise gerade mal drei bis fünf Jahre älter sind als sie, steht eine ganze Herde Jugendlicher auf dem staubigen Asphalt zwischen den Bussen, aufgekratzt, müde, verkatert, planlos. Manche tragen Strohhüte, manche haben Kissen in der Hand. Spanien! Tankstelle! Sie blinzeln in die Sonne, schauen sich skeptisch um. Ein gnomenhafter Mann nähert sich uns. Er sei der Fahrer eines anderen Busses, sagt er, und er habe bemerkt, dass wir Reporter seien. Der Mann erzählt irgendwas von Sat1 und RTL, die auch schon mal da waren, und dass er es scheiße findet über 20 Stunden zu fahren und danach nochmal drei Stunden zu putzen. Er sagt: „Was ist los mit diese Leute? Musse schreibe: Jugendliche habe kein Gehirn.“
Als wir schließlich auf der Palmengesäumten Hauptstraße von Lloret ankommen, stürmt ein Mann, der sich in einen weißen Bademantel gehüllt und sich eine Plastikperlenkette um den Hals gelegt hat, in unseren Bus und macht eine Durchsage. „Pardy, Pardy, Pardy!“, brüllt er und stellt sich als Rainbow-Chefkoordinator vor. Seine Stimme klingt, als hätte er seit ungefähr 1997 nicht mehr geschlafen. „Die Frauen, die euch Nelken anstecken wollen sind übrigens Taschendiebe. Haut die einfach um.“
Wir werden ins Hotel gebracht. Das Casino Royal (***) ist ein Klotz aus gelblich-braunem Beton, Stammheim mit Schwimmbecken und Balkon. Durch das Innere fressen sich dunkle, stollenartige Spiegelgänge, obwohl die Decken beklemmend niedrig sind, haben die Spanier sie mit Tropfsteinförmigen Plastikkronleuchtern behängt. Deutsche, französische und niederländische Jugendliche (die alles in allem übrigens absolut identisch aussehen) klappern mit ihren Fip-Flops durch das Treppenhaus. Auf einer Pinnwand ist das Animationsprogramm für diese Woche angeschlagen: „Disco“, „Luftgewehrschießen“, „Fiesta infantíl“. Nur langsam durchschauen wir das Prozedere im Casino Royal: Wer ein verwirrendes Autorisierungsverfahren (Plastikbecher oder weiße Karte und dann auf jeden Fall immer die Blaue Karte vorzeigen) besteht, bekommt an den Hotelbars von 10 bis 24 Uhr Bier, Sangría und terpentinhaltige Alkopops für umsonst. In einer Art Besäufnishalle mit Internet und Gepäckablage treffen wir auch Ronny wieder, einen jungen Zeitsoldaten aus Sachsen, der im Bus im unteren Abteil saß und nun in einer Mischung aus Erregung, Erschöpfung und einsetzendem Kater krächzt: „Ich bin immer noch Hacke. Bei uns ging’s ab. Ich muss euch sagen, die Anna hat eine ganz schön feuchte Muschi gehabt.“
Am Abend, nachdem wir unsere Zimmer bezogen und präventiv anverwüstet haben (Kekse zerbröselt, Schranktür entfernt) gehen wir mit den anderen auf die Rainbow Willkommensparty in die Disko Revolution. Auf der Tribüne des Raums, einer Art überdachter Gladiatorenarena, schenkt uns ein misslauniger Spanier rabattierten Alkohol aus. Autoscootergeräusche und Sirenen jaulen durch die Luft, Basskaskaden peitschen hinterher, Zahnspangen glitzern im Scheinwerferlicht. Plötzlich ist es still. Nebel zischt in den Kessel, hunderte junger Fäuste werden in Richtung Decke gereckt. Eine Stimme verkündet feierlich: „I come from Miami, bitch!“ Als wäre das eine geheime Losung, irgendein Kommando, vielleicht der Schlüssel zu diesem ganzen Lloret de Mar, brüllen sie wie aus einer Kehle los, die Tanzfläche explodiert, jetzt rasten hier alle komplett aus. Um Mitternacht verklumpt die Menge dann wieder, die ersten Paare bilden sich. Manche Jungs tun besoffener als sie sind, hängen sich einfach wie nasse Säcke auf eine Frau. Andere verzweifeln an Mädchen, die partout ihren Mund beim Küssen nicht öffnen wollen, heben sie hoch, schieben sie ratlos die Wand hinauf. Ronny, der Fummler, nähert sich im ersten Stock von hinten einer Frau, die etwas von einem narkotisierten Walfisch hat. Er fasst ihr an die Hüfte, tastet sich mit mehreren Unterbrechungen immer wieder zaghaft vor bis zu ihren Schritt (wovon sie aber nichts mitzubekommen scheint). Die, die kein Mädchen abbekommen haben, schunkeln pro Forma noch ein bisschen zur Musik, krallen sich mit leeren Gesichtern an ihren Plastikbechern fest. Um ein Uhr hat auch der letzte registriert, dass es an diesem Abend mehr Verlier als Gewinner geben wird. Die mathematische Realität ist gnadenlos: Mindestens 70 Prozent Männer in Lloret de Mar – und fast alle wollen eine Frau.
Nachts im Hotel. Wir hören die Schreie prügelnder und geprügelter Franzosen, das Bersten der Türen, die eingetreten werden, die arabischen Stimmen der Sicherheitsleute, die die Fassade mit Suchscheinwerfern ableuchten, um herauszufinden, wer mal wieder Kondome/ Bierflaschen/ Fernseher/ Betten auf die Straße geschmissen hat. „Miri! Lass mich rein, ich will weitersaufen“, wimmert ein Mädchen auf dem Gang. Auf der Straße skandieren die Nachhausekommenden: „Ger-ma-ny! Wir waschen uns nie!“. Von draußen dringt auf einmal zartes Stöhnen zu uns herein. Als ich nachschauen gehe, segeln vier Möwen krächzend über den Sportplatz und die Baustelle vor dem Balkon.
Nach dem Aufstehen gehen wir zum Strand, einer kilometerlangen Piste aus Katzenstreuartigen Steinen, die mit einem Teppich aus glänzenden Menschenkörpern bedeckt ist. Wir treffen die Erfurter an einer Cocktailbar mit Blick aufs Meer. Marc erzählt, er habe im Hotel eine 18-jährige Engländerin kennengelernt, die mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder in Lloret sei. „Wenn ich heud‘ keine neue find‘, werd‘ ich sie nochmal knaddern“, verkündet er. „Hola, wir wollen saufen. Long Island Ice Tea, groß!“, ruft Rico der Bedienung zu. Sie bringt uns fünf Vasenartige Gefäße mit einem bittersüßen, braunen Zeug darin. Wir sind sofort besoffen und stolpern gemeinsam, die Trinkkelche wie Zepter schwingend, über den Strand. Rico brüllt in Richtung Meeresbrandung: „Spreiz deine Beine, zeig die Fotze, lass dich gehen!“
„Man sieht gleich, dass ihr beiden hier nicht hinpasst“, sagt der Rainbow-Chefkoordinator, der bei unserer Ankuft in den Bus gestürmt kam zu uns. Er nennt sich Don Francis, wir treffen ihn in seiner eigenen Bar, die „I love Don Francis“ heißt. Er ist 36 Jahre alt, zutätowiert und einer der wenigen Typen in der Stadt, der nicht wie ein kurzgeschorener/ auftrainierter/ gegeelter Profifussballer aussieht. Seine langen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare fallen auf sein ärmelloses, weißes T-Shirt herab. Seit zehn Jahren lebt er jetzt in Lloret de Mar, davor trieb er in Hamburg, St. Pauli sein Unwesen. „Ich komm aus ‚m Milieu, mehr sage ich nicht.“ Sein Markenzeichen sind der weiße Bademantel und die weiße Sonnenbrille, er hat sich selbst den Titel „König von Lloret de Mar“ verliehen. Die meisten Jugendlichen scheinen ihn tatsächlich gern zu haben, wahrscheinlich weil Don Francis das Gegenteil ihrer Eltern ist. Er würde nie sagen: „trink nicht so viel. Er sagt: „Los, Junge, sauf das auf Ex!“ Noch immer ist er ein bisschen angefressen, weil ihm Olli, ein anderer Reiseleiter, in einem Spiegel-Artikel vom vergangenen Jahr das Wort „Eskalation“ geklaut hat. Auf „Eskalation“ hat Don Francis in Lloret de Mar nämlich ein Copyright, das ist seine ganz persönliche Erklärung dafür, warum dieses Küstenkaff jedes Jahr aufs Neue von zehntausenden Teenagern aus ganz Europa in Geiselhaft genommen wird. „Wir feiern hier nicht, wir eskalieren hier“ – der Olli hat diesen eindeutig Don Francis zuzuschreibenden Satz dem Typen vom Spiegel in den Block diktiert. Im Winter, als die Urlauber wieder weg waren, hat der König zurückgeschlagen. Er hat eine CD aufgenommen („Eskalation“) und auch noch seine Autobiographie geschrieben („Ausnahmezustand“), die man im Internet schon anlesen kann: Da steht zum Beispiel, dass er, ein Kind mit einer Hamburgerin hat, die in Lloret auf Abifahrt war, und dass das Kind mit zweitem Namen auch Francis heißt, und dass er, wenn er mal keine feste Freundin hat, gut hundert Mädels in einer Touristensaison durchnudeln kann. „Hier, riecht mal“, sagt er und stellt uns eine Probepackung seines neuen Don-Francis-Parfüms auf den Tisch. Gemeinsam mit seinem Bodyguard steigt der König von Lloret dann auf einen Motoroller, um in eine der Diskotheken fahren, wo er den Jugendlichen ein bisschen was vorsingen wird. Zum Abschied ruft er uns etwas zu, das klingt wie: „Wir gehen noch mal eben einen Burger verhaften. Bis gleich.“
Am nächsten Abend besuchen wir die Erfurter im Hotel Alexis (***). In der holzvertäfelten Lobby gibt es Bier für einen Euro Fünfzig. Ein paar ältere Frauen sitzen verloren an Tischen herum, trinken süße Getränke mit Terpentin und schauen in Richtung einer Nische, wo eine Musikanlage aufgebaut ist und ein Schwarzer, der ein blau-gelb marmoriertes Hawaiihemd trägt, eine ballettartige Performance aufführt. Aus den Boxen tönt ein Lied: „When I get older, I will be stronger.“ Marc sitzt draußen auf einem Plastikstuhl neben Becky aus Essex, seiner 18-jährigen englischen Urlaubsfreundin, in deren Mund eine feste Zahnspange aufblitzt. Ihr Vater, der auch irgendwo steht und trinkt und sich darüber beschwert, dass man ihn in ein Hotel mit lauter besoffenen Teenagern gesperrt hat, weiß nicht, dass die beiden eine Affäre haben, die in der vergangenen Nacht angeblich sogar in Geschlechtsverkehr gemündet ist. Marcs Gesicht ist rot, seine Augen quellen hervor, seine Zunge verhakt sich ständig im Mund.
Becky lehnt sich zu ihm:
„Marc, why are you always drunk?“
„Noooo.“
„First thing he does is start drinking in the morning.“
„Where you buys jeeeanz…“
Marc stützt sich auf ihrem Oberarm, kippt beim Versuch an ihrer Weste zu zupfen fast vom Stuhl. „Oh, just my boy!“, ruft sie.
Plötzlich schreien alle wild durcheinander. Der Portier kommt angerannt. Die Holländer pinkeln vom Balkon.
Etwa am dritten Tag befällt uns das Gefühl, bereits mehrere Wochen hier zu sein. Lloret de Mar ist in Wahrheit ein riesengroßes Hamsterrad. Die Jugendlichen sausen durch die Gassen und wir hetzen hinterher, vom Hotel zum Strand, vom Strand zum Hotel, vom Hotel in die Bar, von der Bar in die Disko, und dann wieder nach Haus. Alles wiederholt sich permanent. Sie fragen: Seid ihr von Sat1 oder von RTL? Wir trinken. Wir trinken. Wir trinken. Dr. Döner alias Ali tront auf einem Barhocker und erklärt uns ein gastronomisches Konzept namens billiger Alkohol. Jemand drückt uns ein Einladung für eine Ü-20 Party in die Hand. Der Bodyguard von Don Francis sagt, wir müssten unbedingt den Fickfelsen suchen gehen, aber als wir am Fickfelsen ankommen ist es dunkel und nass und niemand ist da.
Im Speisesaal des Casino Royal, wo uns hasserfüllte Katalanen verwelkte Pommes, nach Staub schmeckenden Kaffe, nach Tod riechendes Fleisch und einen als Grapefruitsaft getarnten, rostfarbenen Zuckersirup auftischen, keimt auf einmal wieder Hoffnung unter den Jungs auf: Gerüchte über Gruppensex gehen um. Nichts scheint unmöglich. Einer sagt: Gestern nacht auf der Party hätte es eine Frau mit acht Männern in zwei Schichten gemacht.
Später gehe ich alleine runter an den Pool, wo ein paar dicke Engländer Wasserball spielen und der Putz abbröckelt. Die halbe Wienerwurst, die hier eben noch schwamm, ist vermutlich untergegangen oder von einem Kind gegessen worden. Neben mir knallen sich Paul, der bald eine Ausbildung zum Krankenpfleger machen wird, und Justus, der sich als Marineoffizier für 13 Jahre bei der Armee verpflichtet hat, einen Gin Tonic aus den Alles-inklusive-Plastikbechern rein. Sie diskutieren darüber, wann das Leben zu Ende ist.
„Ich will nicht älter werden.“
„Nee, auf keinen Fall.“
„20 ist gut.“
„Ja. Oder 22. Maximal 23. Dann kann die Zeit von mir aus stehen bleiben.“
„Ja, bitte. Mehr geht wirklich nicht.“
Im Zimmer neben uns läuft lauter Techno, es riecht nach Haarspray und Schnaps. Ein Rudel Kölner Mädchen macht sich fertig für den Abend. Auf ihre Nachtkästen haben sie gerahmte Knutsch- und Rumsitz-Fotos von ihren Freunden gestellt. „Ist halt voll die Freiheit hier. Keiner passt auf uns auf“, sagt Michelle, die 16 Jahre alt ist. Wo sie hingehen wollen, wissen sie noch nicht. Auf die Schaumparty jedenfalls nicht, weil die Jungs sich im Schaum verstecken und sie heimlich am Po und den Brüsten begrapschen würden, und sie doch jetzt alle vergeben sind. Im Zimmer gegenüber sitzen Jonas, Leon und Norman und erzählen, wie einer von ihnen gestern Nacht von Holländern verprügelt wurde, weil er besoffen deren Getränke umgekippt hat. „Das ist halt nicht Deutschland“, sagt Norman. „Ich glaube, ein Menschenleben ist hier viel weniger wert.“
Mittlerweile haben sich die Erfurter vom Baden im Pool wuchernde Geschwüre an Armen und Ohren geholt. Die Ärztin habe gesagt, es komme von einem speziellen Bakterienstamm, der seit langem in der Stadt zuhause sei. Das Essen, der Alkohol, das schmutzige Wasser und die Klimaanlagen, die die Diskos auf Gefrierschranktemperaturen abkühlen, fordern Tribut. In der Rainbow Gruppe sind mittlerweile gut ein Drittel der Jugendlichen von der so genannte Lloret-Krätze befallen: Halsschmerzen, Husten, Durchfall, Kopfweh, mysteriöse gelbe und rote Punkte auf Armen und Beinen. Das sei gar nichts, sagt ein Zwölftklässler aus Köln. „Als ich letztes Jahr hier war, haben zwei Typen in meinem Zimmer die Schweinegrippe gehabt.“ Kurz nach vier am Morgen: Es geht nicht mehr. Ich gehe runter zur Rezeption, überall von der Schaumparty übriggebliebener Schaum, Zombies in Flip Flops torkeln durchs Bild. Der Portier ist unbewaffnet und hat anders als gestern in dieser Nacht keinen Baseballschläger in der Hand. „Hola Señor, ich sterbe. Ich habe Husten und Schmerzen im Hals. Haben sie vielleicht Medizin für mich?“ Er glotzt mich teilnahmslos, irgendwie fischig an. Dann lacht er los. „Nein, Amigo. Das einzige, was ich für dich habe ist Alkohol.“
Am nächsten Abend treffen wir den Direktor des Hotels in seinem Büro, einem Zellenartigen Schlauch ohne Fenster, in dem es ungefähr fünf Grad hat. Vor uns sitzt ein etwa vierzigjähriger katalanischer Nationalist mit blonden Bartstoppeln und krummem Rücken, der die diffuse Aura eines gebeutelten Mannes verströmt. Er zündet sich eine billige Zigarette der Marke Winston an. „Hier, die neuen Verbotsschilder. Keine Mikrophone, Kein Geschrei, keine Gegenstände aus dem Fenster werfen. Ach, das hat doch sowieso keinen Zweck.“ Von seinem Schreibtisch aus hat er ein Dutzend Monitore im Blick, auf denen man die Gäste in schwarzweiß durch die Gänge ruckeln sieht. Er zeigt uns die letzten Auswertungen der Videoüberwachung: Zwei Engländer haben fälschlicherweise behauptet, ihnen seien Iphones und Ipods gestohlen worden. Und da sei gestern auch dieses Fax aus Deutschland angekommen: Eine Mutter erlaubt ihrem 17-Jährigen Sohn ausdrücklich Alkohol zu trinken. „Aber nee, ich bin doch nicht blöd. Wenn der Junge vom Balkon stürzt, kriegen sie mich dran.“ Das Telefon klingelt. „Hola, Gran Hotel Casino Royal. Ja. Holen sie die Polizei. Anzeige. Alles klar.“ Der Direktor legt eine nachdenkliche, ja fast philosophische Miene auf. „Bueno, wahrscheinlich haben auch wir, das Hotel, Schuld an der Misere. Schauen sie sich doch einfach um. Aber was ist mit diesen Jugendlichen los? Ich glaube, wir haben ein Erziehungsproblem. Nicht nur in Deutschland, nein auch in Spanien und ganz Europa. Sie kommen wegen dem Sex, sie kommen wegen dem Strand, sie kommen wegen den Partys und dem Alkohol. Sie kommen hier her, weil sie glauben, dass es keine Regeln gibt. In meiner Jugend war es ganz einfach. Wenn ich mich daneben benommen habe, hat mir mein Vater eine gescheuert, und dann habe ich es kapiert.“
In der letzten Nacht sehen wir viele aus unser Gruppe zur Abschiedsparty wieder. Die meisten von ihnen wirken blass, manche scheinen zu humpeln. Die Älteren meckern über das Essen und das Hotel. Nur bei den Minderjährigen wirkt der Zauber von Lloret de Mar noch immer wie am ersten Tag. Sie zählen die Getränke auf, die sie getrunken und gelegentlich auch wieder ausgespien haben. Sie schwärmen von den Diskotheken, in die man sie reingelassen hat. Sie schwören, dass es hier auf jeden Fall super und total toll sei, und dass sie im nächsten Jahr wiederkommen werden, aber hundertpro. Don Francis hat sich im Erdgeschoss der Disko St. Trop das Mikrophon geschnappt und gibt zum ungefähr tausendsten Mal in dieser Woche eine seiner Sauftechno-Hymnen zum besten: „Wir sind hier, machen Lärm und Dreck / Erst nach ner Woche sind wir wieder weg / Einmal in deinem Leben, da muss es passieren/ In Lloret de Mar wirst du eskalieren.“ „Willst du auch ein Kind von Don Francis, frage ich ein kreischendes, blondes Mädchen. „Ja, ruft sie. „Ich habe ein T-Shirt von ihm!“ An der Bar treffen wir eine aufgewühlte Russin. Sie sagt, in Sibirien, wo sie lebe und für Gazprom arbeite, sei Don Francis eine Berühmtheit. Es verstehe zwar keiner, worum es in den Text gehe, aber sie sängen seine Lieder dort Tag und Nacht.
In den Stunden vor der Abreise sind wir noch einmal am Meer. Romantische Wortfetzen wehen über den Strand. „Spaziergang.“ „Tierpark.“ Justus hat schon wieder einen giftgrün-violettem Riesencocktail in der Hand. Steffi, die eine Ausbildung bei der Bahn macht, hat die Augen geschlossen und liegt mit dem Kopf in Pauls Schoß, der auch so einen Riesencocktail neben sich stehen hat. Die beiden reden darüber, wie es in Berlin mit ihnen weitergeht. Die Erfurter haben sich T-Shirts gekauft, ein schlapper Puma fläzt sich auf den Buchstaben „Coma“. „Es widerspiegelt den Verlauf der Reise“, sagt Marc.
Im Bus zurück nach Berli sind sie alle ganz zahm. Der einzige, der noch Krawall macht, ist ein 67-jähriger Zeuge Jehovas, den es aus schwer nachvollziehbaren Gründen vor einiger Zeit nach Lloret verschlagen hat. Er sitzt unter uns, und faselt stundenlang von der Hölle und dem Untergang der Welt.